Isso oder die Krise der Vielschichtigkeit

Immer häufiger höre ich in Diskussionen oder Workshops – nach einer bestimmten, meist generalisierten Aussage – das Wort „Isso!“ („Es ist genauso!“), also eine Bestätigung dieser Aussage durch die Person, die sie ausgesprochen hat. Damit soll der uneingeschränkte Wahrheitsbeweis erbracht werden. Ein weiterer Diskurs wird unmöglich gemacht, denn so ist es und nicht anders, egal welche Meinung die anderen haben.

Widerstand ist zwecklos

Wir leben in einer Zeit, in der Aufmerksamkeit zu einer höchst begehrten Ressource geworden ist. Wer sie gewinnen möchte, scheint mit polarisierenden, simplifizierenden und oft provokanten Botschaften am erfolgreichsten zu sein. Diese werden dann als DIE Wahrheit lautstark ausgerufen. Widerstand ist zwecklos. Differenzierte Argumentationen, die unterschiedliche Perspektiven einnehmen und Vor- sowie Nachteile abwägen, bleiben dabei auf der Strecke. Stattdessen triumphieren vermeintlich einfache Lösungen und Aussagen, die oft wenig mit der realen Komplexität der Welt gemein haben.

Komplexität verstehen, nicht reduzieren

Dieses Phänomen ist nicht neu, hat sich jedoch durch die Mechanismen der modernen Medienlandschaft und sozialen Netzwerke drastisch verstärkt. Algorithmen bevorzugen Inhalte, die Emotionen auslösen – insbesondere Empörung, Wut und Euphorie. Differenzierte Beiträge, die zum Nachdenken anregen oder gar zum Zweifel auffordern, haben es schwer, sich in diesem Umfeld durchzusetzen. Sie erscheinen zu langsam, zu sperrig, zu unattraktiv. Vielschichtigkeit wird zunehmend als Schwäche wahrgenommen, während einfache Wahrheiten und eng umrissene Feindbilder als Stärke gelten.

Doch diese Entwicklung ist gefährlich. Sie untergräbt nicht nur die Grundlage eines aufgeklärten Diskurses, sondern führt auch dazu, dass die Gesellschaft auf komplexe Herausforderungen mit unzureichenden Antworten reagiert. Klimawandel, soziale Ungerechtigkeit, geopolitische Konflikte – all diese Probleme verlangen nach Lösungen, die komplexe Zusammenhänge berücksichtigen und differenziert betrachtet werden müssen. Einfache Antworten können in solchen Kontexten bestenfalls unzureichend und schlimmstenfalls irreführend sein. Wir benötigen nicht eine Reduktion, sondern ein besseres Verständnis der Komplexität.

Vielschichtigkeit als Schwäche

Die Aufklärung hat uns gelehrt, den Mut zu haben, unseren Verstand zu gebrauchen. Dieser Mut bedeutet auch, der Komplexität der Welt mit Respekt zu begegnen und die Vielschichtigkeit von Themen nicht nur zu akzeptieren, sondern aktiv zu beleuchten. Dies erfordert jedoch Zeit, Geduld und die Bereitschaft, Ambivalenzen auszuhalten. Die dialektische Methode, wie sie vom Philosophen Hegel beschrieben wurde, bietet hier ein wertvolles Werkzeug. Sie fordert dazu auf, durch die Gegenüberstellung von These und Antithese zu einer Synthese zu gelangen – einer höheren Form der Wahrheit, die aus der Auseinandersetzung mit Widersprüchen hervorgeht. Leider ist diese Methode sowohl im öffentlichen als auch im privaten Diskurs weitgehend verloren gegangen.

Stattdessen dominieren Narrative, die klare Linien ziehen und komplexe Sachverhalte auf einfache Formeln reduzieren. Oft geht es dabei weniger um die Suche nach Wahrheit als um die Durchsetzung eines bestimmten Geschäftsmodells, einer politischen Agenda oder einer ideologischen Überzeugung. Wer differenziert argumentiert, wird schnell als unsicher, unentschlossen oder sogar unglaubwürdig wahrgenommen. Es entsteht der paradoxe Eindruck, dass Vielschichtigkeit nicht Ausdruck von Intelligenz, sondern Zeichen von Schwäche ist.

Mut zur Tiefe

Was kann man dagegen tun? Wie können wir diesen Trend umkehren und den Wert des differenzierten Denkens wieder ins Bewusstsein rücken? Hier einige Ansätze:

  1. Bildung zur kritischen Reflexion fördern: Schulen und Universitäten sollten nicht nur Fakten vermitteln, sondern auch die Fähigkeit, kritisch zu denken und komplexe Zusammenhänge zu analysieren. Führungskräfte sollen in ihren Teams Mut zur Ambivalenz zeigen und Diskussionsräume öffnen.
  2. Persönliches Engagement fördern: Jede/r Einzelne kann dazu beitragen, indem er oder sie sich bewusst für differenzierte Inhalte entscheidet und solche Stimmen unterstützt. Es erfordert Zeit und Geduld, sich mit komplexen Themen auseinanderzusetzen – doch diese Investition ist unverzichtbar.
  3. Mut zur Klarheit und zur Tiefe: Öffentliche Personen, Unternehmen und deren Führungskräfte sollten den Mut haben, auch unbequeme Wahrheiten anzusprechen und komplexe Argumente vorzubringen. Dies mag kurzfristig anstrengender sein, führt aber langfristig zu größerer Glaubwürdigkeit.
  4. Diskussionskultur neu beleben: Es bedarf neuer Räume und Formate für echte Diskussionen, in denen Meinungsverschiedenheiten nicht nur toleriert, sondern als Chance zur Weiterentwicklung verstanden werden. Diese Plattformen können wichtige Bindungskräfte ausüben, weil sie Wertschätzung den anderen gegenüber signalisieren.

Die Rettung der Vielschichtigkeit im Diskurs ist kein leichtes Unterfangen. Doch sie ist unabdingbar, wenn wir als Gesellschaft oder auch Organisation den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft gewachsen sein wollen. Der Mut zur Differenzierung und der Respekt vor der Komplexität sind keine Schwächen, sondern essenzielle Stärken. Es liegt an uns allen, diese Werte wieder in den Mittelpunkt zu rücken und die Prinzipien der Aufklärung in die heutige Zeit zu überführen. Denn nur durch die aktive Auseinandersetzung mit dem Vielschichtigen können wir zu echten Lösungen gelangen – und so auch langfristig unsere Glaubwürdigkeit bewahren.

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